Gerald Traufetter

Was essen wir 2050?

(Auszug)

[...] Die Aufgabe auf Erden ist zwiespältig: Die einen essen zu viel und ungesund ­ sie brauchen Lebensmittel mit einer Extraportion Gesundheit. Die anderen ­ rund 800 Millionen Menschen ­ leben am Rande des Verhungerns und bebauen karge, ausgemergelte Böden. Sie brauchen neuartige, widerstandsfähige Pflanzen, die in Dürrezonen und notfalls auf versalzter Krume gedeihen.

Es muss also immer mehr und immer bessere Nahrung her. Denn Über- und Unterernährte in der Welt ­ bei beiden Gruppen geht es um je etwa 1,2 Milliarden Menschen ­ sind durch Gemeinsamkeiten verbunden: "Beide teilen das Schicksal von Krankheiten, Behinderungen und kürzerer Lebenserwartung und sind ein Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes" ­ so Ernährungsexperte Gary Gardner in der jüngsten Ernährungsstudie des Worldwatch Institute [...]

Die größten Nutznießer der Grünen Revolution saßen im Norden. In geringerem Umfang hat das Heer der Hungernden profitiert: Noch 1970 war ein Drittel aller Menschen unterernährt. Heute sind es etwa 20 Prozent, in 10 bis 15 Jahren wird ihr Anteil an der Weltbevölkerung voraussichtlich auf 12 Prozent absinken, wie die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO verhalten optimistisch prognostiziert. Das sind dann immer noch mindestens 500 Millionen Menschen.

Die Nahrungsspeicher füllen sich in Asien, vor allem in Indien und China. Allerdings: "Die afrikanischen Staaten südlich der Sahara sind von der positiven Entwicklung weitgehend abgekoppelt", sorgt sich Hartwig de Haen, deutsches Direktoriumsmitglied der FAO.

Aus dieser Region stammen die TV-Bilder von Kindern mit aufgeblähten Bäuchen, die in den Industrieländern die Vorstellung von Hunger bestimmen. Von den derzeit 1,2 Milliarden Unterernährten sterben die meisten nicht am Hunger, sondern an Krankheiten, die Folge mangelnder Ernährung sind. Täglich raffen diese eigentlich leicht zu bekämpfenden Seuchen 34 000 Kinder dahin ­ 12 Millionen in jedem Jahr. Nicht nur Bürgerkriege oder eine korrupte Führungsclique wie in Afghanistan oder Äthiopien können ein Volk in die Hungerkatastrophe treiben. Auch labiles Klima wirft eine Nation innerhalb kurzer Zeit zurück in den Mangel. Jeder der sich zaghaft entwickelnden Staaten Asiens, Afrikas und Südamerikas kann urplötzlich wieder in dramatische Versorgungsengpässe geraten. Agrarexperten wie der Deutschbrasilianer José Lutzenberger glauben sogar an eine neue Eskalation, weil "sich der Mensch systematisch seiner eigenen Lebensgrundlagen beraubt".

Seit 1945 hat urbares Land von der Größe Lateinamerikas an Fruchtbarkeit deutlich verloren. Jedes Jahr schrumpft die Ackerfläche um weitere fünf bis sieben Millionen Hektar. Zwar gewinnt der Mensch ­ meist durch Brandrodung ­ riesige Flächen neues Ackerland hinzu. Doch die werden zumeist für den Anbau von Futtermitteln verwendet, zum Mästen von Rindern, Schweinen und Hühnern. "Die reinste Energieverschwendung", zürnt Lutzenberger: "Für ein Kilogramm menschliche Nahrung werden annähernd 20 Kilogramm Tierfutter verbraucht."

Jedes einzelne der über 1,3 Milliarden Rinder auf der Erde verfrisst so viel Energie wie ein Mittelklasseauto. Das Gewicht der Rinder übersteigt das aller sechs Milliarden Menschen - der Hauptteil der Fleischproduktion landet in den ohnehin wohlgenährten Bäuchen des Nordens.

Auch vom Fisch bleibt den Hungernden kaum etwas übrig: 3,5 Millionen Fischerboote stechen jeden Tag in See. 60 Prozent aller großen Fanggebiete sind "an den Grenzen ihrer Ausbeutungsmöglichkeiten" angelangt, konstatiert die FAO. Aus den Fischnetzen landet jedoch ein Drittel, insgesamt 30 Millionen Tonnen, zu Fischmehl verarbeitet in den Trögen industrieller Fleischmastbetriebe. Agrar-Kritiker Lutzenberger: "Die Gefräßigen holen es sich bei den Bedürftigen."

Das lässt sich auch aus Handelsbilanzen herauslesen. Brasilien, einer der weltgrößten Exporteure von Agrarprodukten, führt Unmengen von Sojabohnen aus, die Reisproduktion zur Ernährung der eigenen Bevölkerung fiel in den neunziger Jahren um 18 Prozent. Ist das Welternährungsproblem in Wahrheit nur ein Verteilungsproblem? "Verhungern müsste bei der Gesamtproduktion an Lebensmitteln eigentlich niemand auf der Welt", sagt Ingeborg Schäuble, Präsidentin der Deutschen Welthungerhilfe.

Über die Suche nach dem richtigen Weg aus der Hungerfalle aber ist ein erbitterter Streit zwischen Wissenschaftlern, Entwicklungshelfern und Umweltschützern entbrannt. Sicher ist nur eines: Die Zahl der Erdenbürger und mit ihr der Bedarf an Nahrungsmitteln steigt. Schon im Jahr 2020 soll die weltweite Getreidenachfrage bei 2,476 Milliarden Tonnen liegen, fast 40 Prozent über dem heutigen Niveau. [...]

Konzerne wie BASF sehen ihre Chancen auf den gigantischen Nahrungsmärkten in den Industrieländern. Ziel ist es, möglichst die gesamte Ernährungskette vom Acker bis auf den Teller mit Industrieprodukten zu beliefern. Schon jetzt stammen 75 Prozent aller Lebensmittel, die in Deutschland für rund 400 Milliarden Mark pro Jahr verzehrt werden, nicht mehr direkt vom Bauern, sondern durchlaufen industrielle Veredelungsprozesse. Dahinter verbergen sich teils unappetitliche Fertigungstechniken: Künstlicher Vanillegeschmack wird gern aus Sulfit-Ablaugen der Papierindustrie gewonnen. Mit Rückständen aus industrieller Rauchgasreinigung lassen sich auch Würstchen "räuchern". Und Cystein, aus chinesischen Menschenhaaren extrahiert, verleiht Industriebrötchen verführerischen Backofen-Duft - aber wen kümmert das, wenn er am Sonntag seine frischen Backwaren an der Tankstelle abholt?

Ernährungswissenschaftler wie der Vollwert-Papst Claus Leitzmann haben gute Gründe, die industriell produzierte Nahrung zu verwünschen. Gesunde Nahrung, so sein Credo, gibt es nur bei schonendem Umgang mit Boden, Luft und Wasser. "Momentan erleben wir genau das Gegenteil", kritisiert Josef Reichholf, Zoologieprofessor und Präsidiumsmitglied des World Wide Fund for Nature in Deutschland. "Die Lebensmittelproduktion entwickelt sich zum größten Umweltproblem der Zukunft."

Das beginnt mit der Ausdünstung des Treibhausgases Methan aus den Viehmastbetrieben. Aber auch auf jeder weiteren Stufe des Veredelungsprozesses, vom Saatgut bis zur Fertigpizza, werden für Transport und Tiefkühlung riesige Energiemengen verbraucht. In den intensiv bewirtschafteten Gebieten haben Kunstdünger und Pestizide die Artenvielfalt drastisch reduziert. [...]


Quelle: Der Spiegel, 22/2000
URL: https://antispe.de/txt/essen2050.html auf antiSpe.de